Gemeinsam mit der Abteilung Personalentwicklung für das pastorale Personal im Erzbistum Paderborn und der Theologischen Fakultät Paderborn wirkte das Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik an der Fortbildungsveranstaltung „Charismatischer Katholizismus – das Zukunftsmodell der Kirche?“ mit. Die Rezeption charismatischer Religiosität mit ihrem Fokus auf dem emotionalen Erleben ist auch innerhalb der katholischen Welt nicht mehr zu übersehen. Und dass es ausgerechnet charismatische Gruppen und Events sind, die viele – und gerade auch junge Menschen – auf der Suche nach einer geistlichen Heimat ansteuern, irritiert nicht wenige. Der Studientag gab den Priestern, Diakonen, Pastoral- sowie Gemeindereferentinnen und -referenten Gelegenheit, wissenschaftliche Erklärungen und Einblicke in den Charismatischen Katholizismus zu erhalten, Erfahrungen und Erkenntnisse zu teilen und offene Fragen im Gespräch zu klären. Prof. Dr. Dr. Andreas Koritensky, Lehrstuhlinhaber für Systematische Philosophie und Sekretär der Fakultät, gestaltete den Studientag gemeinsam mit Prof. Dr. Christian Stoll, Lehrstuhlinhaber für Dogmatik und Dogmengeschichte und Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik Paderborn, und PD Dr. Burkhard Neumann, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik Paderborn sowie Jun.-Prof. Dr. Cornelia Dockter, Lehrstuhlinhaberin für Ökumenische Theologie, als Moderatorin. Im Focus standen Fragen wie: Woher kommt das charismatische Christentum und was sind seine Erfolgsrezepte? Welche Aspekte des charismatischen Zugangs zum Christentum können problematisch sein? Wie kann eine Kultivierung und Integration religiöser Emotionen in einer katholischen Spiritualität aussehen?
In drei Impulsvorträgen wurde der Charismatische Katholizismus aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen. PD Dr. Burkhard Neumann, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik Paderborn, nahm die konfessionsgeschichtliche und historische Einordnung dieser Phänomene vor. Er zeichnete die Entwicklung des Pentekostalismus von den Anfängen in Los Angeles über die ersten Ansätze in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der evangelischen Kirche bis hin zu der Mitte des 20 Jahrhunderts u.a. von Prof. Dr. Heribert Mühlen, dem ehemaligen Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Fakultät, angestoßene Charismatische Bewegung und die seit 1980 von den Neopentakostalen ausgelöste „dritte Welle des Heiligen Geistes“ nach. Außerdem machte er die Teilnehmenden mit den prägenden Elementen wie Geisttaufe, Zungenrede, Lobpreis, Anbetung und Altarruf vertraut. In der nachfolgenden Diskussion wurden u.a. die ökumenischen Kontakte, aber auch die Gefahr von geistlichem Missbrauch und Manipulation sowie die Nähe zur Mystik und die praktische Lebenshilfe diskutiert. „Der Charismatische Katholizismus ist ein rasch wachsendes, weltweites Phänomen“, resümierte Dr. Neumann: „Es kann unsere Glaubenspraxis bereichern, muss aber theologisch diskutiert werden.“
Prof. Dr. Christian Stoll, Lehrstuhlinhaber für Dogmatik und Dogmengeschichte und Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik Paderborn, unterzog die Erfahrungen, die man in dieser Art von Spiritualität machen kann, einer kritischen Reflexion vor dem Hintergrund der katholischen Tradition. Diese war eher von einer Erfahrungsskepsis geprägt und ordnete entsprechende Motive oft dem Protestantismus zu. Katholische Theologie betonte die Täuschungsanfälligkeit von Gefühlen und setzte auf Vernunft und Glaubenslehre. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben Theologen wie Karl Rahner und Heribert Mühlen das Charismatische als Alltagsgestalt der Mystik zu würdigen versucht. In der nachfolgenden Diskussion wurde zum einen darüber nachgedacht, welche Maßstäbe man anlegen kann, um die eigenen Gotteserfahrungen zu prüfen, und wo man in der katholischen Kirche Räume für Erfahrungen öffnen kann. Dabei ging es auch um die Frage, ob von der Konjunktur der Sakramente in Gottesdiensten des Charismatischen Katholismus etwas zu lernen ist. „Die Zeiten werden skeptischer, aber die Religion wird erfahrungsbezogener“, brachte Professor Stoll die Situation der Religion in der Moderne auf den Punkt.
Prof. Dr. Dr. Andreas Koritensky, Lehrstuhlinhaber für Systematische Philosophie und Sekretär der Fakultät, untersuchte, was die Attraktivität des charismatischen Katholizismus ausmacht. Wie geht man mit spirituellen Emotionen um und wie kultiviert und integriert man sie in ein religiöses Leben, sodass sie förderlich und nicht problematisch werden waren die Fragen, mit denen er sich auseinandersetzte. Er erklärte anhand der Konzepte der Stoiker, von Platon, Aristoteles, Descartes, Schleiermachers und Kants, was den Menschen im Kern ausmacht und welche Rolle dabei Verstand sowie Emotionen einnahmen. Daraus leitete er vier Thesen zum Umgang mit Emotionen ab. Emotionen seien keine Privatangelegenheit, sondern über die Sprache und körperliche Vollzüge in die Gemeinschaft eingebunden. Emotionen bedürften der Kultivierung, sie hätten eine essentielle Funktion in der Gesellschaft wie z.B. die Ausbildung von Reue oder Mitleid. Sie müssten aber auch bewertet werden, das setze die Schulung der Urteilskraft voraus. Und über Emotionen seien individuelle Differenzierungen des Einzelnen möglich, jeder habe das Recht auf eine eigene Spiritualität. „Emotionalität sollte in der katholischen Kirche kultiviert, bewertet und eingebunden werden“, forderte Professor Koritensky: „Aber es erfordert ein hohes Maß an Verantwortung, damit emotionale Räume vor geistlichem Missbrauch oder Manipulationen geschützt werden.“
Die Gruppenarbeiten am Nachmittag, die von Dr. Martina Aras, wissenschaftliche Assistentin am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik, Mag. theol. Alexander Kaiser, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie, und Mag. theol. Miriam Raschka, wissenschaftlicher Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte, gemeinsam mit den Referenten durchgeführt wurden, dienten dazu, diese Perspektiven auf konkrete Situationen in der Gemeinde und im kirchlichen Leben sowie der Entwicklung von Kirche zu übersetzen, zu diskutieren und zu konkretisieren. Die Ergebnisse dieser Gesprächsgruppen wurden dann anschließend in einer Panel-Diskussion zusammengetragen, moderiert von Jun.-Prof. Dr. Cornelia Dockter, Lehrstuhlinhaberin für Ökumenische Theologie. In den Pausen und dem gemeinsamen Mittagessen bestand viel Zeit zum Austausch untereinander.
Der Studientag war von großer Offenheit und gegenseitigem Respekt geprägt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten ihre eigenen Erfahrungen und Fragen einbringen und von den verschiedenen Fachperspektiven profitieren. Es wurde deutlich, dass der Charismatische Katholizismus ein wichtiger Teil der Kirche ist und Potenzial für die Zukunft bietet, aber auch kritisch betrachtet werden muss. Insgesamt war der Studientag ein gelungener Austausch von Wissen, Erfahrungen und Anregungen für die pastorale Arbeit in der katholischen Kirche. Es kristallisierte sich heraus, dass es wichtig ist, die Vielfalt der spirituellen Ausdrucksformen innerhalb der Kirche anzuerkennen und zu integrieren, um allen Gläubigen eine spirituelle Heimat bieten zu können.